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Viele Rentnerinnen und Rentner haben zunehmend finanzielle Probleme – doch darüber möchte niemand sprechen

„Altersarmut“ – allein bei dem Begriff zucken viele Menschen mit den Schultern. „Betrifft mich nicht“, sagen die jungen Menschen, „Ich kenne niemanden“, sagen die Gutsituierten, „Die hätten eben besser vorsorgen sollen“, finden die Unwissenden. „Ich bin betroffen“, geben nur wenige zu. Was ist sie also – die Altersarmut? Und wer ist davon betroffen? Wir fragen nach bei Gesa Rogowski, Koordinatorin der Howe-Fiedler-Stiftung und 2. Vorsitzende des Vereins Groschendreher, Bündnis gegen Altersarmut.

Gibt es in Kiel viele Senioren, die von Altersarmut bedroht sind?

„Zunächst muss man einmal festhalten, dass die Senioren und Seniorinnen in Kiel eine ebenso heterogene Gruppe sind, wie alle anderen Einwohner und Einwohnerinnen der Landeshauptstadt. Altersarmut ist abhängig von unter anderem der familiären Situation, der gesundheitlichen, letztlich natürlich auch der finanziellen Situation und auch dem Geschlecht, um nur einige Beispiele zu nennen. Wenn man dazu noch mobil eingeschränkt ist, wird es immer schwieriger mit der Teilhabe. In der Kombination schnappt die Falle „Altersarmut“ zu. Genauere Zahlen liefert der Sozialbericht der Stadt Kiel*. Wir müssen dazu unterscheiden, ob ein Pflegebedarf besteht oder nicht.“

Was macht die Altersarmut anders als andere Formen der Armut?

„Junge Menschen können sich in der Regel noch aus eigener Kraft ändern, können aktiv etwas dazu tun, sich aus der Armutsfalle zu befreien. Alte Menschen hingegen haben keine Chance und Kraft mehr dazu.“

Wie gerät man in Altersarmut?

„Niemand hat Schuld an seiner oder ihrer Altersarmut. Heute sind es vor allem Frauen, die betroffen sind, weil sie einer Generation angehören, die häufig nach der Familiengründung nicht gearbeitet hat, weil es der Mann so wollte. Dazu kommen Menschen, die ihre Wurzeln verloren haben, weil sie aus anderen Kulturkreisen eingewandert sind. Oft sind es auch Personen, deren Familiensysteme aus irgendwelchen Gründen gesprengt wurden. Die Gründe für die Altersarmut sind vielschichtig.“

Wie sieht Altersarmut ganz real aus?

„Das lässt sich in wenigen Worten beschreiben: Isolation, Einsamkeit, Scham und Hoffnungslosigkeit und zunehmende gesundheitliche Einschränkungen.“

Können Sie das näher erklären?

„Durch die finanzielle Notlage haben diese Menschen keine Teilhabe mehr am gesellschaftlichen Leben. Sie schämen sich für ihre abgetragene Kleidung, haben kein Geld für einen Frisörbesuch, können keine kulturellen Veranstaltungen besuchen, weil es neben dem Eintrittsgeld schon an den Fahrtkosten scheitert. Viele von Ihnen ernähren sich unausgewogen und bewegen sich zu wenig. Davon werden sie krank. Am Ende ist der Fernseher ihr bester Freund.“

Was kann man dagegen tun?

„Wenn es so weit gekommen ist, leider nicht mehr viel. Es gibt einige Angebote in Kiel, doch davon muss man wissen. Unsere Stiftung (die Howe-Fiedler-Stiftung) beispielsweise hilft mit Einkaufsund Frisörgutscheinen und kann auch einmalige Sachleistungen wie eine neue Waschmaschine finanzieren. Der Kommunale Sozialdienst für Erwachsene der Stadt Kiel ist eine große Hilfe oder der Verein Groschendreher. Zusätzlich gibt es auch viele andere Menschen und Einrichtungen, die Hilfe leisten, entscheidend ist aber, dass die Betroffenen von diesen Angeboten auch wissen müssen. Das ist meistens leider nicht der Fall.

Warum nicht?

„Weil sie häufig keinen Zugang zu Informationen haben. Die Tageszeitung können sie sich nicht leisten, ältere Menschen sind teilweise nicht mit dem Internet vertraut und/oder haben die entsprechenden Geräte nicht. Sendungen im Radio gibt es zu diesem Thema so gut wie keine. Ab und an berichtet der lokale Fernsehsender über einzelne Projekte.“

Was muss sich also ändern?

„Wir, die Gesellschaft muss sich ändern. Wir müssen genauer hinschauen. Unsere Blickwinkel ändern. Altersarmut muss mehr thematisiert werden. In den Medien präsenter sein. Kostenlose Zeitungen, die man mitnehmen kann oder die als Werbemittelträger ins Haus kommen, sind wertvolle Informationsquellen und Multiplikatoren. Schon in Anspruch genommene Hilfsdienste ebenfalls. Wer mit einem Fuß in einem Netzwerk drin ist, der bekommt auch weitere Hilfe. Wir sind untereinander alle sehr gut vernetzt und geben Informationen weiter.“

Viele Menschen wissen aber noch nicht einmal, dass sie Anspruch auf Hilfe und Unterstützung haben. Oder sie scheuen den Gang aufs Amt, weil sie mit den Anträgen nicht zurechtkommen.

„Das ist richtig. Deswegen müssen wir auf diese Personengruppe zugehen, damit sie individuelle Unterstützung bekommen können. Erste Anlaufstellen können dafür die sogenannten „annas“ – Anlaufstelle Nachbarschaft in den einzelnen Stadtteilen sein oder der Verein Groschendreher. Dort gibt es wertvolle Tipps und Ratschläge. Doch dafür muss man dort auch hingehen. Und das fällt vielen Seniorinnen und Senioren aus vielerlei Gründen eben schwer.“

INTERVIEW: ULRIKE VOLKMANN


* Der Sozialbericht der Stadt Kiel 2022 sagt aus, dass seit 2005 die Zahl der Leistungsberechtigten für Grundsicherung bei Erwerbsminderung und im Alter stets gestiegen ist. Ab 2013 zwar nicht mehr in der gleichen Dynamik, aber im Durchschnitt werden jährlich rund 1400 Neuanträge gestellt, etwa 60 Prozent davon werden bewilligt. Die Altersarmut liegt für das gesamte Kieler Stadtgebiet (Stand 2020) bei 7,4 Prozent und ist seit 2015 um einen Prozentpunkt gestiegen. (Quelle: Sozialbericht der Stadt Kiel 2022)

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